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Hans-Dieter Krönung

„Welche Erkenntnis gewinnen wir, wenn wir immer mehr über immer weniger wissen?“

(Abwandlung eines Zitats von Jürgen Habermas)

Jürgen Habermas hat sein Spätwerk über die Geschichte der Philosophie veröffentlicht („Auch eine Geschichte der Philosophie“, Suhrkamp Verlag 2019) und sorgt sich gleich zu Beginn über die sich verändernde Rolle der Philosophie. „Die Philosophie folgt wie alle Disziplinen dem Zug zu einer immer weitergehenden Spezialisierung. An einigen Orten geht sie schon in die Rolle einer begriffsanalytischen Dienstleistung für die Kognitionswissenschaften auf; an anderen zerfasert der Kern der Disziplin in nützlichen Angeboten für einen wachsenden wirtschafts-, bio- oder umweltethischen Beratungsbedarf“.

Er weist später darauf hin, dass es in der Philosophie eben anders sei als bei anderen Wissenschaften, bei denen Spezialisierung nur Fortschritt bedeute. „Auch die Philosophie ist eine wissenschaftliche Denkungsart, aber … sie unterscheidet nämlich zwischen Wissenschaft und Aufklärung, wenn sie erklären will, was unsere wachsenden wissenschaftlichen Kenntnisse von der Welt für uns bedeuten …“.

Ich bin mir nicht sicher, ob Habermas als Philosoph hierbei nicht einer gewissen Betriebsblindheit unterliegt, denn zweifellos ist z.B. die Wirtschaftswissenschaft eine der dominanten Wissenschaften unserer Zeit, die auch der wachsenden Spezialisierung anheimfällt, und man muss sich die Frage stellen, ob dies den Erkenntnissen, die wir aus dieser Wissenschaft ziehen sollten, genutzt hat.

Gehen wir doch noch einen Schritt weiter und sehen wir uns die Führungsetagen großer Konzerne an. Große Unternehmen brauchen Spezialisten, daran besteht kein Zweifel. Da ist der Produktionsprozess mit vielfältigen komplexen Lieferketten und logistischen Abhängigkeiten, die nur ein Spezialist optimieren kann. Es braucht darüber hinaus den Finanz-Spezialisten, der die Zahlenwelt durchdringt, versteht und optimiert, damit die Bilanzen Investoren und Aufsichtsbehörden zufrieden stellen. Des Weiteren benötigt man den Rechtsexperten, der vom Investoren-Management bis zur Bekämpfung von drohenden Rechtsverstößen und deren Folgen alle Kräfte mobilisieren kann. Es braucht Spezialisten für die Forschung und Entwicklung, für den Vertrieb und für das Marketing, die Revision sowie das Compliance-Wesen (ich bitte die durchgängig männliche Funktionsbezeichnung zu entschuldigen; selbstverständlich sind alle Funktionen auch weiblich zu besetzen). Ach ja, dann ist da noch die Informationstechnologie, die man kaum versteht, aber vor der bzw. vor deren Missbrauch man ständig Angst haben muss. Und zu teuer ist sie sowieso.

Mein Doktorvater war bei den Diplomprüfungen gefürchtet, weil er die Gepflogenheit besaß, die Prüflinge in „Allgemeiner Betriebswirtschaftslehre“ (so etwas gab es damals noch) nicht etwa nach Detailwissen zu fragen, sondern sie bat, darüber zu dozieren, was denn bspw. das Marketing mit der Produktionstheorie verbinden würde bzw. was denn die Kostentheorie mit der Entscheidungstheorie zu tun hätte.

Sie können sich vielleicht vorstellen, wie ein zum Platzen gefüllter Hirnkörper, bereit, Silowissen in großen Mengen auszuschütten, auf solche Fragestellungen reagieren kann. Ich habe in meiner Funktion als gelegentlicher Beisitzer dabei häufiger kognitive Systemzusammenbrüche erlebt als sinnvolle Antworten.

Dabei kann man auf dem Weg der lateralen wissenschaftlichen Interaktion durchaus Erkenntnisse generieren, wie z.B. dass die in der betrieblichen Praxis weiterhin häufig anzutreffende Vollkostenrechnung entgegen der Empfehlung der Kosten-theoretischen Spezialisten auch deshalb nicht absurd erscheint, weil die Entscheidungstheorie die durchgängige Risikoaversion von Entscheidungsträgern unterstellt, die sich in der Kostenkalkulation eben durch einen Vollkostenaufschlag ausdrücken lässt.

Dem Spezialistentum wohnt immer auch das Autistische inne, so meine Lebenserfahrung. In großen Organisationen gibt es vielfältige Ausprägungen dieses Phänomens.

Das rücksichtslose Durchsetzen eigener Fachinteressen gegenüber dem Gesamtinteresse entspringt nicht selten der Überzeugung, man sei schließlich auch nur für die eigene Fachseite verantwortlich, und wenn dies in anderen Bereichen für Probleme sorge, dann müsse man eben dort mit den Problemen fertig werden.

Auch die weit verbreitete Ansicht, dass die Gesamtorganisation massive Probleme habe, nur im „eigenen“ Bereich sei alles in bester Ordnung, deutet sehr deutlich auf eine Variante des Autismus hin.

Das, was Habermas für die Philosophie sorgt, dass nämlich „die Erkenntnis für alle“ auf der Strecke bleibt, wenn sich die Philosophie den Spezialisten ergäbe, ist ja im Grunde auch die Problematik des Vorstandsvorsitzenden eines Konzerns oder des Geschäftsführers eines hinreichend großen Unternehmens. Wie macht man aus einem Verbund von Spezialisten eine schlagkräftige Führungsmannschaft, die buchstäblich „am gleichen Strang zieht“.

Ich bin sicher, alle meine Leser würden der Theorie folgen, dass es einen großen Mehrwert für das Unternehmen bedeutet, wenn es gelingt, die Spezialisten auch für das Gesamtinteresse des Unternehmens einzunehmen und zu begeistern.

Nur, es ist nicht die Sache der Spezialisten, zu viel Rücksicht auf das Gesamtinteresse zu nehmen. Zumeist handelt es sich bei Spezialisten um Menschen, die sich für Ihr Fachgebiet begeistern und wenig Freude daran haben, sich um größere Zusammenhänge zu kümmern. Das ist dann eher das Terrain von „Unternehmern“, die aber in Ihrem Fortbestand ebenso gefährdet sind wie die klassische Philosophie, wenn wir Habermas glauben wollen.

Spezialisten erkennt man auch daran, dass sie sich auf Pressekonferenzen scheuen, zu Themen Stellung zu beziehen, die nicht ihr ureigenes Fachgebiet betreffen. Es fehlt ihnen häufig das, was man gemeinhin als „gesunden Menschenverstand“ bezeichnet.

Ich habe schon häufiger erlebt, dass man die Fähigkeit des Spezialisten so bewundert hat, dass man ihn auch für geeignet hielt, das Gesamtunternehmen zu leiten, und, schlimmer noch: Der Spezialist glaubte irgendwann selbst, für „höhere Weihen“ geeignet zu sein.

Aber ein wirklicher Spezialist bleibt immer ein Spezialist. Wenn der CFO-Spezialist zum CEO wird, dann bleibt er CFO-CEO, d.h. er wird die Zahlenwelt des Unternehmens zum Maßstab des Handelns erklären, die Stäbe ausbauen und den Fachleuten im Unternehmen weniger Aufmerksamkeit schenken als notwendig und gut wäre, um Innovation und Unternehmertum zu bewahren bzw. weiterzuentwickeln.

Wird der Techniker und Entwicklungs-Spezialist zum CEO, dann gewinnt tendenziell der Produktentwicklungs-Wettbewerb an Bedeutung, nach dem Motto: „Schneller, weiter, höher“ (Die Automobil-Industrie kann ein Lied davon singen).

Natürlich kommt es auch vor, dass es zu einer Metamorphose kommt, dass nämlich aus der Spezialisten-Raupe ein Unternehmer-Schmetterling wird. Alle Eigentümer hoffen auf diese Verwandlung, wenn sie den anerkannten Fachexperten zum Chef machen. Im Grunde muss sich der Spezialist dazu wieder neu erfinden. Es kann nicht sein, dass der ehemalige Kreditbereichsleiter, der aus einer Laune der Zeit heraus zum Vorstandsvorsitzenden einer Bank geworden ist, die Vorstandssitzungen zu Kredit-Kolloquien umwandelt und seinen Kollegen jedes Mal das Kreditgeschäft erklärt.

Es kommt also auf den Charakter an, ob man den Schritt zum Unternehmer-CEO schaffen kann oder nicht, denn es braucht Charakter, die Dinge, die einen dahin gebracht haben, wo man ist, nämlich die Fachexpertise, gewissermaßen über Bord zu werfen und sich neu aufzustellen und das Risiko des Scheiterns in Kauf zu nehmen. Es ist meine feste Erkenntnis, dass die Wirkung von Spezialisten immer wieder überschätzt und die Wirkung des „Unternehmer-CEOs“ immer wieder unterschätzt wird.

Ich stelle mir das immer so vor wie im Reaktorbecken eines Kernkraftwerks, in dem die einzelnen Brennstäbe in bestimmten Abständen voneinander Energie erzeugen. Jeder Brennstab ist ein Spezialist, der Fachexpertise (Energie) produziert, aber der CEO ist Becken und Kühlwasser zugleich. Es mag nicht spektakulär erscheinen, Becken und Kühlwasser zu sein, aber wir haben schon erlebt, was passieren kann, wenn nur die Brennstäbe übrigbleiben, weil Becken und Kühlwasser kollabiert sind.

Ein nur von Spezialisten geführtes Unternehmen muss über kurz oder lang kollabieren, weil die Eigeninteressen irgendwann das Gesamtinteresse zerstören bzw. weil wichtige Aspekte der Unternehmensentwicklung systematisch missachtet werden.

Fachexpertise ist keine Qualifikation für die CEO-Funktion, sondern Unternehmertum und Charakter.

Es ist das große Erfolgsgeheimnis des Mittelstands, noch immer Raum zu schaffen für Unternehmer, sei es als Eigentümer oder Angestellte. Das hat vor allem mit der besseren Überschaubarkeit mittelständischer Strukturen zu tun, aber auch mit der Governance, die häufig noch in Familienhänden liegt. Es ist die Kultur des Unternehmers, sich um alles zu kümmern, was die Spezialisten nicht als ihre Verantwortung betrachten, und das kann sehr viel sein. Veränderungen in der Kundenzufriedenheit, drohende Produktentwicklungen der Konkurrenz, sich verschlechternde interne Kultur, mangelnde Veränderungsbereitschaft und vieles mehr sind Felder, denen Spezialisten gerne aus dem Weg gehen, weil diese Themen mit Einschätzung, Gefühl und Emotion zu tun haben. Spezialisten bewegen sich gerne auf vertrautem Terrain, fachlich oder methodisch, dort können sie ihre Stärken entfalten. Deshalb sind Spezialisten tendenziell Veränderungs-hemmend wirksam, es sei denn, sie haben den richtigen Charakter.

Es ist das Spannungsfeld zwischen Wissen und Erkenntnis, das den Konflikt zwischen Spezialisten und Unternehmern (Generalisten) ausmacht. Es braucht, wie in der Philosophie, die Kraft der Erkenntnis, um aus allem Wissen und aller Energie, die die Spezialisten produzieren, Richtungsentscheidungen zu ermöglichen.

Es gibt sicher viele Investoren, Eigentümer und Vorstandsvorsitzende, die das Gefühl haben, sicher schlafen zu können, weil für jedes Fachgebiet anerkannte Experten an Bord sind. Ich möchte davor warnen, in einer solchen Situation sicher zu schlafen, denn in allen Krisen hat es nicht am Wissen, sondern an der Kraft der Entscheidung gefehlt, weil erst die Entscheidung weh tun und falsch sein kann. Die Spezialisten geben in solchen Prozessen nur ihre Ratschläge ab; Verantwortung müssen andere übernehmen.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Wir brauchen die Spezialisten, sie sind eine „notwendige Bedingung“. Aber für den Erfolg „hinreichend“ ist die Existenz unternehmerischer Entscheidungsstrukturen. Prüfen Sie Ihre Organisation einmal unter diesem Blickwinkel durch; vielleicht haben Sie ja eine Erkenntnis.   

Herzliche Grüße aus Brand

Hans-Dieter Krönung

 

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