In dieser Ausgabe unseres Interview-Formats „Zur Sache!“ geht es um die Beantwortung der Frage, warum Agilität immer noch ein Thema ist und wie die erfolgreiche agile Transformation für Unternehmen gelingt.
Dazu spricht Simon Wilmerding mit den EGC-Transformationsexperten Norman Weisser und Tobias Krume.
Herzlich willkommen, Norman und Tobias. Wie definiert ihr Agilität?
Norman: Agilität, wie wir sie heute verstehen, bedeutet nicht einfach, Projekte in agilen Teams umzusetzen oder die IT disziplinarisch in die Fachbereiche einzugliedern. Eine gute agile Transformation betrifft die gesamte Unternehmensgovernance. Es geht darum, die Zusammenarbeit zwischen Fachbereichen und IT in sogenannten Building Blocks zu stärken. In diese werden Mitarbeiter aus Fachbereichen und IT entsandt, bleiben aber disziplinarisch in ihren Einheiten.
Tobias: Richtig angewendet kann Agilität enorme Wirkung in Organisationen erzielen. Sie hilft, bessere Produkte zu entwickeln und die Kundenbedürfnisse passender zu bedienen – was letztlich das Unternehmen erfolgreicher macht.
„Die Suche nach einer geeigneten Lösung für Agilität ist so aktuell wie eh und je.“
Unsere Erfahrung zeigt jedoch, dass ein wirkungsvoller Wandel nur gelingt, wenn die Form der Agilität zur Organisation und ihren Vorhaben passt. Bei EGC lehnen wir daher reine Methodenlehre ab, da sie oft zu kurz greift oder zu unnötigen Debatten über den richtigen Einsatz von Agilität führt.
Ist das der Grund, warum Agilität nach all der Zeit noch immer so relevant ist?
Norman: Agilität ist eine kontinuierliche Reise. Nicht alle Unternehmen haben sofort mehrere Schritte übersprungen wie die Commerzbank oder die ING. Manche haben mit agilen Projekten und Pilotteams begonnen und wollen Agilität nun auf das gesamte Unternehmen ausrollen. Dazu brauchen sie die passende Governance, die es nicht standardisiert gibt.
Tobias: Die Suche nach einer geeigneten Lösung für Agilität ist deshalb so aktuell wie eh und je. Unsere Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass es nicht ausreicht, eine Methodik einzukaufen. Methodiken bieten nur ein Gerüst. Es erfordert ein verändertes Verständnis der Zusammenarbeit, für das die Menschen mitgenommen werden müssen. Ansonsten bringt das Ausrollen einer Methodik kaum Veränderung. Das sehen wir auch oft bei diversen Kunden, die zwar viel Geld und Aufwand in agile Piloten oder Konzepte stecken, aber auch genau dort verharren.
Norman: Ein reines Verständnis reicht allerdings auch nicht aus. Die Governance, also die Organisationsstrukturen und Prozesse, muss die Agilität unterstützen.
Dazu braucht es das Management, richtig? Welche Rolle spielt die Führungsebene bei der agilen Transformation?
Norman: Das oberste Management muss von Anfang an einbezogen sein und ein klares Commitment abgeben. Die Veränderung ist so stark, dass ein reines Bottom-up-Design schnell auf unüberwindbare Widerstände stoßen wird.
Bleibt das klassische Führungsverständnis also bestehen?
Tobias: Zum Teil. Das mittlere Management ist in der reinen Lehre nicht mehr existent, aber das ist nicht realistisch. Führungskräfte müssen die organisatorische Weiterentwicklung mobilisieren, die Menschen mitnehmen und Agilität vorleben. Gleichzeitig müssen die bestehenden Strukturen, wie Norman richtig gesagt hat, in den agilen Gedanken integriert werden.
Wie kann die Integration dieser Strukturen gelingen?
Norman: In unserem Beratungsansatz unterteilen wir Unternehmen in Building Blocks, die möglichst überschneidungsfreie Bündelungen fachlicher Aktivitäten entlang der Wertschöpfungskette darstellen sollten. Der perfekte Schnitt ist dabei natürlich niemals möglich, aber es gibt ein paar Punkte, die besonders zu beachten sind.
Zum Beispiel?
Norman: Neben der Vollständigkeit der fachlichen Aktivitäten und der Überschneidungsfreiheit ist vor allem die Stabilität zu berücksichtigen, damit die Building Blocks nicht wieder komplett neu geschnitten werden müssen, sobald ein neues oder verändertes Produkt aufgenommen wird. Genauso ist auf die Operationalisierbarkeit zu achten, damit Prozesse nicht zerschnitten werden und Budgets sinnvoll verteilt werden können.
„Bei EGC lehnen wir reine Methodenlehre ab. Methodiken bieten nur ein Gerüst.“
Tobias: Building Blocks sind die Elemente einer modularisierten Geschäftsarchitektur. Sie sollten durch Kohärenz nach innen und relative Autonomie nach außen geprägt sein. Inhaltlich werden sie durch Kunden- und Marktsegmente, Produkt- und Funktionsgrenzen ausgearbeitet, sind dabei aber organisationsinvariant. Das heißt, dass mehrere Organisationseinheiten einem Building Block zugeordnet sein können. Der Vorteil an dieser Organisation ist, dass es einen oder eine klare Verantwortliche für einen Building Block gibt, die die Richtung und Priorisierung für die Belange der zugehörigen Organisationseinheiten übernimmt und diese auch gegenüber den anderen Building Blocks vertritt und hinterher auch für die Ergebnisse einsteht.
Wie sieht eine fertige Building Block Struktur aus?
Norman: Zunächst mal gibt es nicht die eine richtige Change-Governance. Jedes Unternehmen hat spezifische Vorbedingungen, die zu berücksichtigen sind. Zentrale Elemente sollten jedoch langfristige strategische Prioritäten und daraus abgeleitete strategische Ziele auf oberster Management-Ebene sein. Daraus lassen sich mittelfristige Vorhaben und kurzfristige Initiativen ableiten, die dann in Epics und User Stories aufgeteilt werden.
In der Theorie klingt das absolut nachvollziehbar. Aber wie wird das in der Praxis dann umgesetzt und gesteuert?
Tobias: Die Vorhaben und Initiativen werden grob gesagt in einem Change Board, das als führende Instanz zwischen allen Building Blocks im Unternehmen fungiert, abgestimmt. Die Maßnahmen, die sich in den von Norman genannten Vorhaben und Initiativen verbergen, orientieren sich an den Anforderungen der jeweiligen Building Blocks. Die Anforderungen werden im Change Board genehmigt und in das Backlog des Building Blocks aufgenommen. Diese Backlogs werden von meist virtuellen Teams im anforderungsstellenden Building Block erarbeitet. Die Teams arbeiten dabei – wo sinnvoll – nach agilen Arbeitsweisen, sind aber nicht dogmatisch einer einzelnen Methodik verpflichtet. Unserer Auffassung nach sind agile Methoden dort sinnvoll, wo mittel- und langfristig interdisziplinär gearbeitet werden soll. Die Methoden sollen dann vor allem der Stärkung der Eigenverantwortlichkeit und der Selbstständigkeit der Teams dienen.
Eigenverantwortlichkeit und Selbstständigkeit bringen nachgewiesen viele Vorteile mit sich – bspw. erhöhte Identifikation mit der Tätigkeit und mehr Motivation bei der Arbeit. Was ich mir schwierig vorstelle, ist die Steuerung und Erfolgsmessung. Welche Idee habt ihr dazu?
Tobias: Das stimmt! Eine objektive Messung gestaltet sich allerdings schwierig, da oftmals keine geeignete Absprungbasis als Vergleichswert zum bisherigen Vorgehen vorliegt. Über die OKR-Methode lassen sich Fortschritte jedoch bewertbar und steuerbar gestalten.
Wie funktioniert die OKR-Methode?
Tobias: Es gibt zwei zentrale Messgrößen. Objectives beschreiben das „WAS will ich erreichen?“ und sind eher motivierend, während die Key Results eher das „WIE will ich meine Ziele erreichen?“ beschreiben. Es geht bei den Key Results darum, zu messen, ob das Team auf dem Weg zum Ziel richtig unterwegs ist. Gerade größere Veränderungen lassen sich gut in einem OKR-System abbilden und in organisatorische, prozessuale, technische bzw. personelle Veränderungsbedarfe runterbrechen und somit messbar ausgestalten.
Zusammengefasst können wir also festhalten, dass sowohl die Building Block-Struktur mit ihren Vorhaben, Initiativen und Maßnahmen als auch die OKR-Methode sich an den übergeordneten Strategien und den Unternehmenszielen orientieren und diese dann in steuerbare und umsetzbare Pakete schnüren. Lasst uns daher abschließend noch einen Blick auf die Ziele werfen, die sich die Unternehmen bei der agilen Transformation gesetzt haben. Welche Ziele haben die Unternehmen, die ihr begleitet habt, mit Ihrer agilen Transformation verfolgt?
Norman: Im Wesentlichen streben unsere Kunden nach mehr Transparenz und einer Verringerung des Change-Budgets durch Dezentralisierung. Andere Unternehmen wollen eine verbesserte Steuerung des Projektportfolios nach strategischen Zielen wie Nachhaltigkeit und Digitalisierung ermöglichen.
„Das oberste Management muss von Anfang an einbezogen sein und ein klares Commitment abgeben.“
Tobias: Insbesondere im Kontext der Projektportfoliosteuerung sprechen wir mit Kunden oft über „Umsetzbarkeit“ und „Machbarkeit“. Am Ende geht es bei allem, was wir besprochen haben, im Kern darum, die Dinge zu vereinfachen und Komplexität zu verringern, um Vorhaben im Unternehmen umzusetzen und gute Lösungen an die Kunden liefern zu können.
Ein guter Schlusssatz! Danke, Tobias. Norman, was möchtest du unseren Leserinnen und Lesern noch mit auf den Weg geben?
Norman: Unsere Studien und Befragungen mit Banken und Finanzdienstleistern in Deutschland und Österreich zeigen, dass ca. 60% der Führungskräfte ihre Organisation weiterhin funktions- und produktorientiert sehen. Gleichzeitig sehen ca. 85% der Führungskräfte, dass Unternehmen mit agilen und kundenorientierten Strukturen erfolgreicher sein werden. Unternehmen müssen aufhören, Agilität als das Anwenden von agilen Methoden in Projekten zu verstehen. Es geht darum, einen geeigneten Transformationspfad zu finden, um die gesamte Organisation neu auszurichten.
Vielen Dank, Norman!